Johanna Tiffe, Industriedesignerin aus Berlin, blickt in die Zukunft, greift Megatrends auf und skizziert in ihrem Gastbeitrag wie sich unsere Welt mit und durch Elektrofahrräder verändert. Die Anzahl der Megacities nimmt zu, Menschen werden älter und Junge wachsen als Digital Native mit Smartphone und pragmatischem Mobilitätsbewusstsein auf. Was wird in zehn Jahren sein?
E-Bikes in zehn Jahren – ein wesentliches Glied der intermodalen Mobilität?
Die Vielfalt der technischen Entwicklungen für E-Bikes, die aktuell Marktreife erreichen, ist beeindruckend. Komfortabler, sicherer, schneller und überhaupt viel attraktiver sollen die Fahrzeuge werden. Immer neue Zielgruppenoptionen erscheinen auf den Listen der Marketing-Strategen. Die Produktpaletten werden prophylaktisch für beispielsweise Speedjunkies, Flottenbetreiber oder Autoüberdrüssige erweitert. Aber stoßen diese E-Bikes wirklich auf die erhoffte Resonanz? Die aktuellen Hauptkäufergruppen sind Senioren und Menschen mit Bewegungseinschränkungen. Gibt es handfeste Indizien dafür, dass andere große Käufergruppen hinzukommen? Wenn ja, wer sind diese Gruppen und welche Mobilitätsbedürfnisse haben sie?
Um sich ein Bild über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen machen zu können und damit Planungen zu erleichtern, entwerfen viele Konzerne und Institutionen Zukunftsszenarien. Auffallend ist, dass selbst in Mobilitätskonzepten wie beispielsweise vom InnoZ, dem Berliner Innnovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel, E-Bikes entweder überhaupt nicht oder bestenfalls vage integriert sind. Offenbar ist diese Fahrzeugkategorie noch nicht in den Köpfen der Planer präsent.
Es scheint an der Zeit, über ihren Anteil an der zukünftigen Mobilität zu diskutieren und ihr Potenzial als relevantes Transportmittel stärker ins Gespräch zu bringen. Das aktuelle Marktvolumen von knapp einer Million verkauften Fahrzeugen im vergangenen Jahr und die rasant steigenden Verkaufszahlen legen dies nahe.
Seit der Finanzkrise von 2008 schlängelt sich Europa durch die Eurokrise. Die deutsche Wirtschaft entwickelt sich zwar positiv, aber durch die unklaren Perspektiven, fehlt das echte Vertrauen in das Wirtschaftswachstum. Doch nicht nur Europas Zukunft wirft Fragen auf. Der Blick muss auf die globalen Zusammenhänge gerichtet werden. Viele afrikanische und arabische Staaten kämpfen um mehr Freiheit. Ob die Bestrebungen positive Ergebnisse für die Nationen bringen werden, ist noch nicht absehbar. Die Auswirkungen sind jedoch schon allein durch die wachsenden Flüchtlingsströme weltweit spürbar. Die Menschen fliehen allerdings nicht nur vor Konflikten, sondern auch vor wachsender Armut, unter anderem bedingt durch Lebensmittelknappheiten und verschärfte Umweltbedingungen. Klimaveränderungen werden weltweit immer mehr sichtbar und verlangen nach Entscheidungen. Hinzu kommt das Thema Ressourcenendlichkeit, das unter anderem bedingt durch das zu erwartende Bevölkerungswachstum an Brisanz gewinnt. Die Themen sind komplex und eng miteinander vernetzt. Sie beeinflussen massiv die Trends, die für eine mögliche Stellung von E-Bikes in der zukünftigen Mobilität wichtig sind.
Verstädterung
Bis 2050 werden mehr als 60 Megacities weltweit prognostiziert. Das Angebot an Arbeitsplätzen und Infrastruktur zieht sowohl Alte wie Junge zurück in die Städte. Durch oft hohe Staatsverschuldung sinkt die Möglichkeit die Infrastruktur in den ländlichen Gebieten aufrechtzuerhalten oder gar auszubauen. Entsprechend wird es weniger Arbeitsplätze und reduzierte Mobilitätsoptionen in den Regionen geben. Der PKW bleibt dort das Verkehrsmittel der Wahl.
Immobilienkäufe sind voll im Trend. Sie bieten die Möglichkeit dem vermuteten Wertverlust des Kapitals entgegen zu wirken. Beim Kauf der Wohnung wird automatisch auf eine gute Infrastruktur des Umfeldes geachtet. Die wiederum ist meist in den Städten und ihren Speckgürteln zu finden.
Für E-Bikes dürfte der Trend eine gute Nachricht sein, da die täglichen Streckenlängen für die neue Fahrzeugspezies wie gemacht sind. Vergleichsweise geringe Investitionen in die Infrastrukturen sind notwendig, um ihre private und öffentliche Nutzung weiter zu forcieren. Als Lastenräder bieten sie sich für Liefer- und Verteilerdienste an. Um intermodale Transportmittelketten zu stärken und zu flexibilisieren sind Leihräder eine ideale Ergänzung. Damit E-Bikes für den privaten Bereich in den Städten attraktiver werden, sind allerdings in vielen Details weiterhin Entwicklungen gefordert, z.B. bezüglich Gewicht, Handlichkeit und Diebstahlschutz.
Wege zur Arbeit
Die Flexibilisierung der Arbeit ist schon seit einiger Zeit in vollem Gange, nicht nur in Deutschland, sondern in allen entwickelten Ländern. Arbeitszeiten werden gleitender und länger, der Effizienzdruck höher und die räumliche Unabhängigkeit dank mobiler Arbeitsgeräte immer größer. Der Dienstleistungssektor wächst kontinuierlich. Produktionen kommen langsam nach Europa zurück. Das Arbeitsangebot sinkt dort allerdings auf Grund von Automatisierung massiv.
Immer mehr Fahrten lassen sich dank der Tendenz zur Vernetzung über Digitale Medien einsparen. Besonders für Langstrecken ist dieser Trend auf Grund seiner positiven Auswirkungen auf die Umwelt zu begrüßen. Im Nahbereich können hingegen neue Wegemuster entstehen. Für diese Strecken können Elektro-Leichtfahrzeuge (LEVs) eine geeignete Alternative sein. Bis 45km/h schnelle Pedelecs (Pedal Electric Cycles) bieten sich für Pendler auf mittleren Strecken an; Pedelecs für kürzere z.B. für Beschäftigte in der ambulanten Pflege – ein Bereich, der auf Grund des demografischen Wandels ausgebaut werden wird. Besonders bei den Arbeitspendlern sind einfaches Handling und Robustheit der Fahrzeuge wichtig. In einigen Bereichen werden sicherlich neben E-Bikes andere LEVs gefragt sein, die den Nutzeransprüchen weiter entgegen kommen.
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die soziale Schere immer stärker öffnet. Die sozialen Netze werden schwächer und Arbeitsplätze im unteren Bildungsbereich geringer und schlechter bezahlt. Viele Teile der arbeitenden Bevölkerungen sind schon heute auf Zusatzleistungen vom Staat angewiesen oder haben mehrere Arbeitsstellen. Schön wäre es, wenn auch hier mit Hilfe von E-Bikes bzw. Pedelecs Wege komfortabler gestaltet werden könnten. Das hängt allerdings stark vom angemessenen Fahrzeugpreis ab. Aktuell sind E-Bikes noch recht teuer. Experten halten eine signifikante Preisreduktion für wahrscheinlich – ein Grund sind die sinkenden Batterie-Produktionskosten.
Mobilitäts-Pragmatismus der „Digital Natives“
Spannend sind die Entwicklungen des Mobilitätsverhaltens der jungen Generation – besonders für die Städte. Die Führerscheinprüfung und der anschließende Autokauf sind inzwischen teuer geworden. Zudem wird das Auto als selbstverständliches Alltagstransportmittel wahrgenommen, schließlich hat quasi jeder Haushalt in den entwickelten Nationen mindestens eines. Das hat zur Folge, dass sein Reiz als Status-Symbol bei den Jungen sinkt. Man schwenkt lieber auf Smartphones um. Vorteilhafterweise sind diese neuen Status-Symbole den „jungen“ Budgets angepasster. Nicht, dass dem Auto abgeschworen wird. Wo es keine komfortable Alternative gibt, z.B. auf dem Lande, ist es nach wie vor das Mittel der Wahl und wird wenig hinterfragt. Denn oft steht im Alltag eben nicht der Umweltgedanke in Vordergrund. Vielmehr sind es die finanziellen Mittel.
Den Jungen wird ein pragmatischer Umgang mit Mobilität bescheinigt. Sie nutzen das jeweils ihren Bedürfnissen angemessene Transportmittel. Das E-Bike hat das Potenzial sich zu einer ihrer Optionen zu entwickeln. Sein Komfort, die verglichen zum Fahrrad höheren Geschwindigkeiten, sein geringer Platzbedarf und seine Flexibilität sprechen dafür; zudem kommt es der Tendenz zur Individualisierung entgegen. Wichtig wird vor allem für die „Digital Natives“ die verstärkte Integration von Smartphones etc. sein – kurz: die Digitalisierung der Fahrzeuge. Sicherlich werden besonders hier ganz eigene Anforderungen an Gestaltung, Ergonomie und andere Details gestellt.
Ausdifferenzierung des Produktangebots für Frauen?
Werden Frauen eine der Hauptnutzungsgruppen bleiben oder nicht? Sicher, die Tendenz in dieser Gruppe ist steigend. Ebenso wie die jungen Leute gehen Frauen pragmatisch an Transportfragen heran. Nur: Während die Prognosen für PKW-fahrende Männer von Jung bis Alt von einer Abnahme ausgehen, sieht es bei Frauen anders aus. Die Alltagswelten der Geschlechter gleichen sich immer mehr an. Zudem wird Frauen eine tragende Rolle im Arbeitsmarkt vorhergesagt. Sie fahren verstärkt eigene PKWs; selbst bei jungen Frauen ist dieser Trend deutlich sichtbar. Das eigene Auto nimmt sich fast wie ein Nachholbedürfnis aus, das befriedigt sein will. Wie viel Raum da für E-Bikes bleibt, ist abzuwarten. Mit dem Pedelec für die „sorgende Mutter“, werden voraussichtlich nicht die Bedürfnisse der gesamten Zielgruppe befriedigt werden können. Wichtig scheint es, die Produktpalette für Käuferinnen weiter auszudifferenzieren.
Demografischer Wandel kommt E-Bike-Branche entgegen
Gesellschaftlich bedeutet der Wandel sicher eine große Herausforderung. Den entwickelten Industrienationen, wie auch China und Korea werden zum Teil massiv alternde Gesellschaften prognostiziert. In den Schwellenländern verläuft die Entwicklung oft moderater, aber die Tendenz ist auch dort erkennbar.Ältere Menschen benötigen weniger Mobilität und vor allem entschleunigen sie ihre Wege. Den tritt-gesteuerten Pedelecs kommt dieser Trend entgegen. Schon aktuell sind die Fahrzeuge hauptsächlich auf Senioren ausgerichtet.
Allerdings werden die Senioren der Zukunft in den entwickelten Ländern mobiler und selbstbewusster sein. Weitere Anpassungen an die Nutzungsgruppe sind auch hier gefragt.
Beobachtungen im Politikbereich
Die Politik beschäftigt sich zur Zeit mit vielen offenen globalen wie nationalen Fragen. Aktuelle Probleme werden oft stark fokussiert. Längerfristige Entwicklungen scheinen dabei manchmal an Bedeutung zu verlieren. Zwar werden z.B. mit der Energiewende in Deutschland langfristig zukunftsorientierte Ziele gesetzt. Deren Realisierung nimmt sich aber recht vage aus. Mittel- oder langfristige Planungen scheinen zur Zeit auf Grund der angespannten Lage in großen Teilen der Welt kaum möglich zu sein – eine internationale Zusammenarbeit noch weniger. Die Rio+20-Konferenz zeitigte für viele eher enttäuschende Ergebnisse, ebenso wie die Folgekonferenz in Doha. Nicht desto trotz setzt sich das Wissen mehr und mehr durch, dass die Worthülse „nachhaltige Entwicklung“ endlich mit Leben gefüllt werden sollte. Ein Beispiel für das Vorgehen der Politik sei hier noch aufgezeigt: Die deutsche Regierung verkündete unlängst, sie müsse ihre Ausgaben für die Verkehrsinfrastruktur drastisch kürzen. Zugleich tätigen viele Gemeinden Investitionen, um den Radverkehr zu stärken. Positive wie negative Entwicklungen scheinen parallel zu laufen.
Fazit
In China sind E-Bikes bereits ein ernstzunehmendes Transportmittel. Durch die zu erwartenden Entwicklungen haben sie auch in Europa das Potenzial dazu, sich dorthin zu entwickeln – insbesondere das Pedelec-Prinzip. Die Chance kann allerdings nur genutzt werden, wenn die Branche sich früh genug mit den kommenden Zielgruppen beschäftigt und ihnen mit passenden Fahrzeug-Konzepten entgegenkommt.
Autorin
Die Industriedesignerin Johanna Tiffe aus Berlin befasst sich seit 2001 mit dem Thema LEVs. Ihr Projekt „ebikeP23“ setzt sich mit technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen von E-Bikes in der kommenden Dekade auseinander. Weitere Informationen zum Projekt finden sie auf ihrem Blog: blog.formf.de.